Auch der Weg über die vermeintliche "Mitte" kann in den Totalitarismus führen
Also dass Extremismus viele Gesichter haben kann (nicht nur klassischen Links- oder Rechtsextremismus), dem stimme ich zu. Es gibt religiösen Extremismus, es gibt grünen/ökologischen Extremismus (Menschen, die wollen, dass ein paar Milliarden Menschen von der Erde verschwinden, damit wieder mehr Platz für Tiere und Natur ist, erst kürzlich hat mich so ein Typ aufgeregt, eigentlich müsste der jetzt das Coronavirus feiern, weil es ja seiner Meinung nach zuviele Asiaten auf diesem Planeten gibt...), es gibt sicherlich auch Extremisten, die sich "weder rechts noch links" nennen, vielleicht sogar "Mitte" (in der Tat tun das Verschwörungstheoretiker sehr gerne und die mag ich auch selber so gar nicht!). Es gibt anarcho-libertäre Extremisten die keinen Staat wollen und nicht einsehen wollen, dass dies zu Bandenkriegen führen würde. Und was-weiss-ich-noch alles.
Aber soweit ich Thomas Kemmerich einschätze, trifft eben all das auf ihn nicht zu. Er wollte einfach, dass auch ein Kandidat zur Wahl steht, der sowohl andere Ideen hat als die AfD als auch die Linke. Dies sogar unabhängig davon, ob diese Parteien jetzt wirklich rechts- bzw. linksextremistisch sind oder nicht.
Einige andere Dinge, die mir im Artikel auffallen:
Was sollte etwa die "Mitte" sein zwischen der "linken" Annahme, dass alle Menschen dieselben Rechte und Freiheiten haben sollten, dass Diskriminierung und Privilegien aufgrund von Herkunft, Geschlecht, Sexualität und so weiter abgeschafft gehören und der rechten Annahme, dass - zum Beispiel - Leute mit bestimmter ethnischer Herkunft dümmer und unkultivierter sind als andere und Homosexualität "unnatürlich" ist?
Beides schliesst sich nicht aus. Die Rechte die wir haben, leiten sich aus unserem Menschsein ab. Wir haben sie als Menschen qua Menschsein. Person X kann also durchaus dümmer, fauler, unkultivierter usw. als Person Y und hat trotzdem die selben Rechte wie Y. Bei Ethnien weiss ich es jetzt nicht, aber beim Geschlecht bspw. ist die IQ-Streuung (wir lassen mal die Frage weg, wie sinnvoll und nützlich der IQ-Wert ist) bei Männer viel breiter als bei Frauen. Trotzdem haben Frauen und Männer die gleichen Rechte verdient.
Und ob Schwulsein jetzt "natürlich" ist oder nicht (m.E. ist es klar natürlich, wir finden Homosexualität in der Tierwelt und es scheint angeboren zu sein, zumindest entscheidet sich niemand bewusst für seine sexuelle Orientierung), sollte auch keinen Einfluss auf seine Rechte haben.
Wenn, dann sollte die Argumentation der Autorin doch wohl sein, dass es keine Mitte geben kann zwischen "X hat Rechte" und "X hat keine Rechte weil..." oder "X hat weniger Rechte weil..." Da würde ich ihr dann recht geben. Da gibt es keine vernünftige Mitte, sondern nur ein richtig oder falsch für mich. Nämlich dass X richtigerweise alle Rechte haben sollte. [Was es alles für Rechte gibt/geben sollte oder eben nicht, ist aber wiederum ne ganz andere Diskussion.]
Liberale sind eigentlich auch wie Linke gegen Diskriminierung wegen der Hautfarbe und anderen oberflächlichen Attributen, sie lehnen aber mitunter sogenannte Antidiskriminierungsgesetze ab, weil sie diese Gesetze als Eingriffe in Eigentum und Vertragsfreiheit sehen. [Rede mal nur über Liberale. Konservative sollen sich selber verteidigen, wenn welche hier sind.]
Herbert Marcuse hat bereits 1934 beschrieben, welche Kontinuitäten es zwischen Liberalismus und Totalitarismus gibt. Als Grundlage liberaler Gesellschaftskonzepte macht er "die freie Verfügung des individuellen Wirtschaftssubjekts über das Privateigentum" aus sowie die staatliche Sicherung davon. "Alle ökonomischen und sozialen Forderungen des Liberalismus sind wandelbar um dies eine stabile Zentrum - wandelbar bis zur Selbstaufhebung", schreibt Marcuse. "Der Gedanke der Diktatur und der autoritären Staatsführung ist dem Liberalismus (...) durchaus nicht fremd." Für Marcuse ist der natürliche Feind des Liberalismus, der den Kapitalismus als einzig mögliche Ordnung sieht, logischerweise der (marxistische) Sozialismus - und die Vollendung des Liberalismus letztlich der totalitär-autoritäre Staat.
Ehm, sorry, aber Liberale sehen den Hauptfeind gerade im Totalitarismus, egal welcher Couleur. Es gibt ein individuelles Grundrecht auf Leben, daraus leitet sich das Grundrecht auf Freiheit ab und Eigentumsrechte definieren den Bereich der Entscheidungshoheit über gewisse Dinge. Im Kern steht also das Invididuum mit klar definierten Rechten, darunter auch das Recht auf sein Privateigentum und der Schutz der Privatsphäre. Ich kann den Vorwurf der Wandelbarkeit also so gar nicht teilen. Die Aufgaben des Staates sind für Liberale ganz klar festgelegt und überhaupt nicht totalitär.
Ich sage übrigens selten bis nie, ich wäre irgendeine "Mitte", ich nenne mich grundsätzlich einfach liberal